China_Tempelhof

Zwischen Bilddokument und persönlicher Vision

Die Reisefotografie von Bruno Biehler an der Schwelle zur Moderne

 

Kaum war 1839 die Fotografie erfunden worden, wurde die Menschheit von der Frage gequält: Ist Fotografie Kunst? Heute wissen wir, dass Fotografie keine Kunst ist, aber – in sehr seltenen Fällen – ebenso wie Malerei oder Gesang, Kunst sein kann. Genauer gesagt, es gibt eine banale und eine Kunstfotografie. Nur deshalb, weil die Fotografie die äußere Welt mechanisch / chemisch dokumentiert, ist sie keine Kunst, weil Kunst an Kreativität gebunden ist. Kunst, das weiß man spätestens seit der abstrakten Malerei oder schon vorher aufgrund der abstrakten Instrumentalmusik oder dem abstrakten Ornament, ist nicht an Abbildlichkeit (auch nicht im übertragenen Sinn) gebunden. Im Bereich der angewandten Künste, etwa der topografischen Graphik, machte die Fotografie viele Künstler arbeitslos. Wer Abbildungen vom nahen oder fernen Osten begehrte, kaufte nun keine Lithografien mehr, sondern Fotografien, die Heerscharen von anfangs mit zentnerschwerem Gerät bepackte Fotografen von mitunter jahrelangen Expeditionen nach Europa zurückbrachten. Fotografie in ihren Anfängen war weniger eine Kunst als vielmehr eine Wissenschaft, bei der der Fotograf ein Labor und chemischen Sachverstand mit auf die Reise nehmen musste.

Als 1913 Bruno Biehler zu seiner großen Reise in den Fernen Osten aufbrach, hatte die Fotografie bereits eine lange, hektische Entwicklung hinter sich. Das fotografische Gerät samt Linsen und Zubehör hatte, was die Großgeräte anbelangte, eine professionelle Reife entwickelt, die im 20. Jahrhundert zwar noch verfeinert, aber nicht wirklich grundsätzlich weiterentwickelt werden konnte. Auch das Negativmaterial war inzwischen zwar wesentlich verbessert, leichter benutzbar und sehr viel lichtempfindlicher geworden, so dass man nun bewegte Objekte bei optimalen Lichtbedingungen halbwegs unverwischt bannen konnte, vorausgesetzt, sie bewegten sich langsam. Doch waren die weiteren Entwicklungen des Negativmaterials nach dem 1. Weltkrieg – was Empfindlichkeit und Auflösungsvermögen anbelangt – so revolutionär, dass damit eine vom Stativ und schwerem Gerät entfesselte, momenthafte und spontane Fotografie möglich wurde. So lässt sich eine frühe, vormoderne Fotografie von einer modernen deutlich unterscheiden, in der die technischen und die stilistischen Möglichkeiten regelrecht explodieren. Allerdings bewahrheitet sich auch in der Geschichte der Fotografie eine uralte Weisheit, dass jeder Gewinn sich über kurz oder lang auch als Verlust erweist, eine Einsicht, der sich die Moderne bislang eigensinnig verweigerte.

Die vormoderne Fotografie versteht sich als dienende Kunst, die sich in den Dienst der dokumentarischen Treue stellt. Nicht der Fotograf wie in der Moderne, sondern das fotografierte Objekt wird dem Betrachter präsentiert. Dabei werden ein paar einfache, grundlegende Regeln still-schweigend zugrunde gelegt. Regeln, die man in der Moderne anfangs mit lautem Getöse – dann gedankenlos inflationiert – gebrochen hat. Diese Regeln lauten: Der Bildausschnitt wird immer waagrecht zum Horizont ausgerichtet. Der Fotoapparat wird waagrecht zum Erdboden gehalten, so dass keine stürzenden Linien entstehen. Wenn ersteres unmöglich ist, werden die stürzenden Linien fotomechanisch korrigiert. Das Objekt wird so aufgenommen, dass der Betrachter über seine Eigenschaften nicht in die Irre geführt wird, sondern sich so gut wie möglich eine Vorstellung von seiner räumlichen Lage machen kann. Die flache Fotografie informiert den Betrachter also über die Dreidimen-sionalität der Außenwelt. Die Moderne verkehrte dieses Anliegen in sein Gegenteil. Die dreidimensionale Welt wird in ein zweidimensionales autonomes und möglichst eigensinniges Bild überführt. Dazu werden alle Verkleidungskünste der Gegenstandsverfremdung und Wirklichkeitsverzerrung aufgeboten. Statt eines zeitlosen Bilds der Dauer ein Karneval und Kaleidoskop der destabilisiert-flüchtigen Augenblicke.

In der Reisefotografie kommt die genuine Dokument-Funktion der Fotografie zu ihrer klassischen Ausprägung. Alle Länder und Gegenden der Erde werden nach Denkmälern, Kunstwerken, Natur-schönheiten und Sehenswürdigkeiten durchkämmt und fotografisch für die Ewigkeit eingefroren. Während man sich in Europa dabei in der Regel auf Architektur, Kunst und Natur beschränkt, faszinieren in den fremden Ländern auch die Bewohner wegen ihres exotischen und ungewohnten Aussehens. Zugleich schwingt dabei der Gedanke mit, dass man sie in einem Noch-Zustand der Ursprünglichkeit antrifft, den es zu dokumentieren gilt. Da der Fortschritt, in welcher Form auch immer, auch in diesen Ländern unerbittlich sein zerstörerisches Werk vollbrachte, wenn man nicht, wie unter anderem in Amerika, die Ureinwohner einfach ausrottete (nachdem man sie vorher noch gemalt oder fotografiert hatte).

Jeder Stil und jede Gattung haben ihre Stärken und ihre Schwächen, ihre Banalitäten und ihre Highlights. Dabei liegen die Stärken der Moderne nicht notwendig im Novitätenzirkus, wie uns die Heerscharen der Kunstideologen weismachen wollen, sondern dort, wo trotz Subjektivität und Flüchtigkeit etwas Dauerhaftes erschaffen werden konnte.

Demgegenüber unterliegt die Fotografie des 19. Jahrhunderts der Gefahr der Einförmigkeit und Monotonie. Hier ragen die Bilder heraus, die über die rein dokumentarische Solidität etwas Dynamisches, Bewegliches und Bewegendes transportieren, über das Objektive hinaus auch Überraschendes und Subjektivität übermitteln. Kunst entsteht nicht, wenn man Regeln ignoriert oder für tot erklärt, sondern indem man sie transzendiert. Weil dies die Moderne besser wusste, wurde zu keiner Zeit so unendlich viel schlechte Kunst produziert wie im 20. Jahrhundert.

Indien_ManduraiBruno Biehler folgte bei seinen Reisefotografien noch grundsätzlich der dokumentarischen Ästhetik der Vormoderne. Vor allem bei den Architekturaufnahmen hält er sich so strikt an die Vermeidung von stürzenden Linien, dass man bisweilen den Eindruck bekommt, dass bei seinem Stativ eine Kippmöglichkeit gar nicht vorgesehen war. Auch weisen die bei nach oben fluchtenden Senkrechten durch ihre Bildparallelität eindeutig darauf hin, dass Biehler hier in professioneller Manier die stürzenden Linien ausglich. Besonders auffällig in der Auf-nahme BB 81 des Turbanträges in der Säulenhalle, aber auch dem zwei-türmigen Tor BB 79. Auf der anderen Seite aber versucht er sich häufig und mit wenig Rücksicht auf Bewegungsunschärfe um das pulsierende Alltagsleben der exotischen Menschen. Er tut dies aber eingebunden in ein festes Koordinatensystem der Welt. Umso spannungsvoller werden dabei die Bemühungen um ein den Raum und den Gegenstand transzendierendes Bild, das bewusste Komponieren der Bilder in der Fläche und das erstaunlich frische Wahrnehmen grafischer Texturen. Bei aller technischen Versiertheit spürt man dabei die Unvoreingenommen-heit des »Amateurs«, des Liebhabers, dessen Blick nicht durch Seh-Konventionen, professionelle Routine und die Festlegung eines vorgegebenen Auftrags beschränkt und getrübt ist. So kann er sich der Magie des konkreten Augenblicks und der momentanen Eingebung erstaunlich eigenwillig ausliefern und seiner persönlichen Sensibilität für bildnerische Poesie frönen.

Der Meisterfotograf der Moderne, ein Franzose, der unermüdlich die Länder dieser Erde durchstreifte, um in ihnen Spiegelbilder seiner Seele zu erhaschen, der große Henri Cartier-Bresson, war weniger an der objektiven Dokumentation fremder Kulturen interessiert (auch wenn er die üblichen Hilfsmittel der Bildaufbereitung verschmähte, etwa das nachträgliche Zurechtstutzen des Bild-Ausschnitts), als an bildpoetischen Augenblicken, die jede Exotik ohne Umschweife ins Allgemeinmensch-liche überführen. Dazu stand ihm mit seiner geliebten Leica ein technisches Wundergerät zur Verfügung, fast so klein wie eine Spionage-kamera, mit dem er als Fotograf praktisch unsichtbar werden konnte. Was ihm dabei an Schärfe des Kleinbild-Negativs verloren ging, machte er durch die Zuspitzung der bildnerischen Vision mehr als wett.

Japan_Grosse-Familie1913 gab es die Leica noch nicht, wobei vor allem bei den Personenauf-nahmen nicht zu übersehen ist, dass Bruno Biehler ihre Möglichkeiten durchaus genutzt hätte. Während Cartier-Bressons Schnappschüsse »gestohlene Bilder« sind, die ohne das Einverständnis, ja das Wissen der fotografierten Personen entstanden, also die Realität des Fotografierens geradezu surreal ausblenden, demonstrieren die Personen in den Bildern Biehlers teilweise Neugierde, Gleichgültigkeit oder vornehme Würde. Bei den Kindern ist es immer Neugierde. Es ist ein erstaunliches Maß an pulsierendem Leben, das Biehler in teilweise souveräner Missachtung professioneller Perfektionspingeligkeit seinen Menschenbildern abgewinnt. Dass immer die sich bewegenden Personen unscharf sind, praktisch nie das ganze Bild, zeigt, dass Biehler mit Stativ fotografierte. Ganz in seinem Element war er hier natürlich bei den Architekturaufnahmen, denen er sich als kommender Architekt mit geschultem Augen und spürbarer Sorgfalt widmete.

Japan_Kyoto_Cherry-MaedchenWas uns heute an Bruno Biehlers Aufnahmen so sehr begeistert, ist neben ihrem herausragenden dokumentarischen Wert die Frische und Intensität ihres fotografischen Zugriffs. Man spürt bei diesen Fotografien durchgängig eine unmittelbare Faszination, die sich durch keine professionellen Regeln ausbremsen ließ. Zugleich aber merkt man auf der anderen Seite ein bildhaft geschultes Auge, das in bildnerischen Beziehungen dachte und so fast durchweg zu so noch nicht gesehenen, überraschenden, teilweise regelrecht die nahe liegenden Konventionen und Bildgewohnheiten konterkarierenden Lösungen fand. Mir ist besonders sein souveräner Umgang mit Rahmenüberschneidungen aufgefallen. Biehler hat keinerlei Hemmungen, Türmen die Spitze zu kappen oder Gebäude halb aus dem Bild zu schieben, um einer kleinen Person einen großen Auftritt zu gewähren. Doch dieses Abschneiden und Ausgrenzen und Zerstückeln ist dabei nicht einfach einem mechanischen Draufhalten geschuldet, sondern folgt einer erstaunlich umsichtigen und teilweise Stilentwicklungen der neueren Fotografie (wie bei Lewis Baltz, geb. 1945, oder Wolfgang Tillmanns, geb. 1968) vorwegnehmenden Kompositorik. Die ganz verschiedenen Raumbereichen angehörenden Bildelemente werden spannungsvoll in der Bildfläche arrangiert, verspreizt, angehäuft, ausgedünnt, in der Mitte fixiert, zur Seite gerückt, an den Rand geschoben, ins Große oder ins Winzige transferiert. Räumliche Gegenständlichkeit wird umsichtig und erstaunlich souverän in fotografische Werte übersetzt, die grafischen Potenziale des Motivs, etwa bei der geradezu mythischen Felsentreppe, bis zur Neige ausgeschöpft. Dabei herrscht eine Vorliebe für die Halbtotale. Allzu große Ferne oder allzu große Nähe wird vermieden. Biehler rückt seinem Motiv auf den Leib und hält zugleich Distanz. Bildzentrum wie die Bildränder halten sich die Waage. Vordergrund und Hintergrund werden gerne, allerdings nicht zwanghaft, sondern improvisierend spielerisch verklammert. Biehler scheut das isolierte Objekt. Stattdessen ein allgemeines Bemühen um gegenstandsübergreifende Beziehungen, häufig zwischen Gebäude und Mensch. Dabei vermeidet Biehler die Monotonie der Urlaubsfotografie, die Angehörige vor Sehenswürdigkeiten ohne Rücksicht auf Bildwirkung platziert. Schnappschussartige Aufnahmen wechseln sich ab mit sorgfältig arrangierten. So platziert er in BB 48A zwischen zwei figürlich reich geschmückte Säulen, die spannungsvoll den Boden und die Decke spiegelbildlich verklammern, eine schmächtige weibliche Person, so dass zwischen Kunst und Leben eine Beziehung und ein Kontrast entstehen, der zu vielfältigen tiefsinnigen Betrach-tungen einläden, ohne uns dazu zu zwingen. Natürlich wissen wir nicht, ob er die Frau gerade zufällig antraf oder sie für die Aufnahme »gecasted« und inszeniert hat, doch müssen wir feststellen, dass ihm solche wie beiläufig auftretenden Arrangements zu häufig gelingen, als dass wir an Zufall glauben mögen.

Dass er solche Bezüge bewusst arrangiert, beweist eine Fotografie der Tempelanlage Borobudur auf der Insel Java in Indonesien, bei dem zwei monumentale kniende Götterfiguren sich gegenüberknien und ein kleiner Junge, ebenso in kauernder Haltung, klein, aber unübersehbar dazugesellt, wobei sich ein spitzblättriger Zweig schützend über die Szene wölbt und die beiden Steinfiguren von einer sanften, weißen Wolkenformation in himmlischem Konsens verbunden werden. Das ist bei aller Lässigkeit und Vermeidung formaler Pedanterie erstaunlich bewusst als Bild arrangiert.

In BB 423 A ist die Hauptattraktion eine kreisrunde Türöffnung. Als »störendes« Moment ragt von links ein reich geschmückter Giebel ins Bild, der den Kreis von außen genau tangiert. Zwei Mönche in gleicher Aufmachung und Haltung starren auf den Betrachter, doch der eine steht als dunkle Silhouettenfigur vor, der andere teilweise vom Licht aufgelöst hinter dem Kreis. Die Kreistüre erhält dadurch eine zusätzliche, überirdische Magie, der man sich kaum entziehen kann, obwohl sie einem nicht mit dem formalistischen Hammer um die Ohren geschlagen wird. Das ist subtil, aber dafür umso bezwingender. Mit anderen Worten: Das ist ganz große Kunst, verkleidet als Hobbyfotografie.

In der Fotografie verschwimmen die Grenzen von Kunst und Hobby, angewandt und frei, amateurhaft und professionell stärker als in anderen Bereichen. Möglicherweise gibt es diese Grenzen hier gar nicht. Ein Knipsfoto, wie Gerhard Richter sagt, kann schöner sein als ein Cézanne. Man könnte umgekehrt Cézanne loben, indem man sagt, seine Bilder seien so schön wie eine Knipsfotografie. So frei, so ungezwungen, so poetisch, so zufällig, so objektiv. Wie auch immer. Jedenfalls verschwimmen die Sphären zunehmend, und die Fotografien von Bruno Biehler, die trotz Krieg, Bombenterror und Wegwerfwahn durch ein gnädiges Schicksal die Zeit überdauert haben, sind ein herausragendes Beispiel dafür, dass man aus beiden Sphären das Beste nehmen und es zu einer harmonischen, unangestrengten Synthese führen kann. Zurückhaltend leuchtende Perlen im Ozean der Bilder.

 

Dieter Weidmann

 

Java_Brambanam